Per aspera ad astra von Rafael Arutjunjan*

Vor zehn Jahren machte das Schicksal mir ein Geschenk, ich traf mich mit Rafael Surenowitsch Artjunjan, einem außerordentlichen Menschen, dem Schöpfer und dem “ Gefangenen des Schönen”.  Sein 68. Geburtstag in 2005 war keinesfalls Anlass, um eine endgültige Bilanz seiner schöpferischen Tätigkeit zu ziehen, um so mehr, dass das bisher Geschaffene eine Fortsetzung voraussetzt.

1. Schaffung der Welt.

Das an der Skulpturfakultät des Tallinner Kunstinstituts Gelernte realisierte Rafael Arutjunjan in seiner Diplomarbeit “Vom Schicksal gezeichnete” (1964), aus vier Figuren bestehender Komposition mit einer Höhe von 2,225 m zum Thema “Juden des Gettos in Odessa”. Sein Diplom löste im Prüfungsausschuss keinen gerade lustigen Wortwechsel aus. Die Ausschussmitglieder waren beunruhigt, nicht so sehr wegen künstlerischer Werte der Abschlussarbeit als wegen negativer Einschätzungen seitens Vertreter der Parteiideologie. Die Verteidigung der Diplomarbeit verlief aber immerhin glänzend.

Rafael Arutjunjans erster und einziger Versuch “der schöpferischen Naturalisation” war seine  Teilnahme am Wettbewerb für das V. I. Lenin Denkmal vor dem Gebäude des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Estlands. Weil aber sogar die Verleihung des Anerkennungspreises  von solchen moralischen Einbußen begleitet wurde, beschloss er für immer, auf Aufträge für festgesetzte Gestalten zu verzichten.  Später, in der Zeit von Perestroika, als Rafael Arutjunjan, der eigentlich “nichts gegen Lenin” hatte und in der Schule im Sinne Anhimmelung “des fast heiligen Menschen” erzogen worden war, erfahren hatte, dass auf Befehl “des Führers des Weltproletariats” viele Verbrechen verübt worden waren, zerschlug er, im berechtigten Zornausbruch, der auch noch durch sein kaukasisches Temperament verstärkt wurde, den Gipskopf vom Iljitsch „mit Vorschlagkammer in kleine Splitter“.

Indem Rafael Arutjunjan sich den Luxus erlaubte, in der Kunst seine eigenen, mit der Konjunktur nicht übereinstimmenden Wege zu gehen, als Mensch unabhängig zu bleiben und von allen allgemeinmenschlichen Werten vor allem auf Freiheit und Liebe zu achten, ist er auch gezwungen gewesen, dafür einen hohen Preis zu zahlen. Von 1966 bis 1983 verdiente der diplomierte Bildhauer das Brot für sich und seine Familie in einer Steinhauerwerkstatt im Tallinner Vorort Rahumäe, wo er Grabsteine gravierte und behaute, um „morgens den Namen vom Jemanden und abends seinen eigenen zu verewigen“.  Neben Friedhof gab es keinen Platz für schöpferische Heldentaten. Die einzige glückliche Ausnahme, „Die Sitzende“ (1975), ist zu  seinem künstlerischen Erbe eher zufällig geraten. Gedacht als Denkmal über das Grab seines Sohnes sitzender Lehrerin, entging dieses Werk doch des Schicksals eines Grabsteins und gewann den Status einer wertvollen und jeder Museumssammlung würdigen Komposition, die uns an die Errungenschaften des großen französischen Bildhauers Maillol erinnert und zu den besten Werken baltischer Plastik dieser Jahre gehört.

Rafael Arutjunjans freiwillige und prinzipielle Absonderung von der Umgebung hat auch eine der Tafelmalerei ähnliche  Genrestruktur seiner Kunst bedingt. Während vieler Jahre, von 1960-er bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, nahm das Portrait eine der wichtigsten Stellen in seinem Schaffen ein. Das sind Portraits Verwandter und nahestehender, dem Künstler gutbekannter Menschen.

Bei der ganzen schlagenden, gut zu behaltender Einmaligkeit des künstlerischen Charakters jeder Arbeit, sei es dann die „Tanya“ (1968), „Viola“ (1975). „Allotschka“ (1979“, „Kopf eines Balten“ (1990) oder andere, sind ihnen gewisse allgemeine Züge eigen: Seelenwärme und keusche Reinheit sowie klassische, sich sowohl in Details als auch im Ganzen ausdrückende Klarheit des plastischen Aufbaus, die den willkürlichen formalen Experimenten fremd ist; das sich durch Ähnlichkeit mit dem konkreten Menschen durchleuchtende außerzeitliche humane und ästhetische Ideal.

Das Gesagte betrifft auch die Portraits der Familienmitglieder des Meisters, zu deren Gestalten er binnen vieler Jahre immer wieder zurückkehrt (“Kopf des Sohnes”, 1974; “Kopf des Knaben”,  1994; “Enkelin”, 1994). Die Beflügelung dieser Arbeiten mit Anwesenheit des Genies der ewigen Schönheit und ihre Ausgeschlossenheit aus der alltäglichen Hast schließen es aus, dass  die Intimität bis zur häuslichen Ergriffenheit sinken, und das Kammerwesen sich auf die Rahmen von Kleinplastik beschränken würde.

Mit dieser Portraitgalerie stehen auch solche, laut Normen strengsten und anspruchvollsten Kunstgeschmacks geschaffenen Arbeiten in Verbindung wie “Maske” (1977), Kopf der Frau” (1981, Bronze), “Träume” (1985) und “Dekorativer Kopf” (1985), in denen die Auserlesenheit der förmlichen Lösung mit Atem des reellen Vorbildes erfüllt ist, wenn auch nur als Andeutung auf die Möglichkeit seiner Existenz.

Die männliche Gestalt unseres Zeitgenossen ist vom Meister in der ausgezeichneten Arbeit “Chirurg” (1978) verkörpert worden, in einer Arbeit, wo alles überrascht: sowohl der beherrschte, unvorgetäuschte Pathos als auch die rauche Monumentalität dieses maßgemäß bescheidenen Werkes (Hohe 45 cm), letztendlich auch die virtuose, thematisch gerechtfertigte, nicht aber irgendeine illusorische Effektbearbeitung des Materials, die unter der Granitmaske einen Teil des Gesichts verdeckt und nur die Augen, die nicht halbgeschlossen, sondern extrem konzentriert sind, offen lässt.

Die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Materialien überzeugende künstlerische Ergebnisse zu erreichen, ist eine der stärksten Eigenschaften der Begabung von Rafael Arutjunjan. Dabei betrifft das sowohl die naturellen, „kostbaren“ Materialien (Marmor, Bronze, Granit, Holz) als auch die „billigen“, synthetischen Stoffe „vom Gips bis zur Plaste“. Wie es sich herausstellte, erkannte Rafael Arutjunjan auch die unbegrenzten „metaphorischen“ Möglichkeiten der Ersatzstoffe. Überraschend ist eigentlich nicht seine meisterhafte Imitierung des notwendigen Materials, sondern seine zauberhafte Fähigkeit, aus beliebigem Ersatz neue, dem Stein, Holz oder Metall gar nicht eigene Eigenschaften und bisher unbekannte visuelle Effekte herauszubekommen. Die Grenzen zwischen dem Naturellen und Synthetischen vermischen sich im künstlerischen Wert der Skulpturen. Beweise dafür sind „Kopf einer jungen Frau“ (1969) und „Selbstbildnis“ (1993), die wie aus einem ungewöhnlichen Stoff laut alten Rezepten der uralten kostbaren bunten Keramik geschaffen sind, wie auch „Giraffe“ (1972) und „Altes Gnu“ (1976), deren ausdrucksvolle Tektonik mit keinem natürlichen Material verknüpft werden kann.

Die realen Dramen des Jahrhunderts geschahen weit von der Schwelle der Werkstatt und der Wohnung vom Rafael Arutjunjan. Diese Ereignisse haben reichlichen Grund zum Mitgefühl gegeben, das seinerseits als Anlass für die Entstehung einer ganzen Reihe tragödieähnlicher Kompositionen gegeben hat (“Viktor Harra. Letztes Lied”, “Trauerbaum. Zum Gedenken V. Harras”, beide 1975; “Die Schatten der Gefallenen flehen an. Santiago”, 1976; “Es wiederholte sich in Chile”,1977; „Folterkammer. Den Menschenrechtskämpfern gewidmet”, 1985 und andere). Rafael Arutjunjan als ein äußerst empfindlicher Mensch gegenüber den Leiden anderer, ist gezwungen, zu erkennen, dass die Menschheit von Lehren der Vergangenheit nicht viel gelernt hat. Das wird nicht nur durch seine Arbeiten, sondern auch ihre Titel bewiesen: “Warnung” (1990) anlässlich der Katastrophe in Tschernobyl und “Wahnsinnige, wahnsinnige Welt” (1989) des Dramas in Afghanistan.

Rafael Arutjunjan hat es nicht für notwendig gehalten, seine eigene Skulpturvariante von Don Quiote zu schaffen, aber das Echo an diese Hymne „an die Ritter der traurigen Gestalt“, die in Einsamkeit kämpfen und sterben, ist in seinen Arbeiten wie „Minas Avetisjan“ (1976), „Komitas“ (1987), „Licht des fernen Sterns, Zum Gedenken Sacharows“ (1989), „Mönch“(1992), „Zum Gedenken eines Künstlers“ (1995) zu hören.

Der klassizistische Darstellungsstil, der vor allem in weiblichen Gestalten des Künstlers zum Vorschein kommende, ist noch kein Grund, um über einen einzigen vorherrschenden individuellen Stil seiner Kunst zu sprechen, worin die anspruchsvolle Plastik von „Frühlingsmotiven“ (1974) und „Laubfall“ (1980), das dynamische Streben in der Komposition „In die Unendlichkeit“ (1973) sich, zwar kaum friedlich!, mit der dem Granit eigenen  Undurchdringlichkeit und „Unaufhebbarkeit“ in „Vietnamesisches Schwein“ (1976), und die inhaltslose Ausdrücklichkeit in „Schüchternen Jugend“ (1970) mit der Sinnbildlichkeit und Redegewandtheit in „Elefant und Affe“ (1984) vertragen.

Die schöpferische Lava der rebellischen Seele des Meisters, die wie ein unvorhersagbarer Vulkan keine Ruhe kennt, ist imstande, Werke wie “Torso” (1985), die fast antiken Normen des Schönen entsprechend, und auch abstrakte und das Ausdruckslexikon des 20. Jahrhunderts gebrauchende Arbeiten wie “Hula-Hoop”, 1968; “Frühlingsmotiv“,1974; “Schwarze Madonna” 1980) zu schaffen. Der breit fließende Fluss dieser Künstlerseele lässt, manchmal auch fast gleichzeitig, Werke entstehen wie das Denkmal “Meinem Hündchen” (1986) und “Fernsehbrücke” (1992), “Trauernde Maske” (1986) und “Freundschaftliche Karikatur” (1987), manchmal aber auch solche Arbeiten, die gar keine Titel benötigen, wie z. B. «Klötzchen» (1992) oder «Dekorativer Findling“ (1987).

Rafael Arutjunjans monumentale Kompositionen gehören wohl zum am meisten  problematischen und in so mancher Hinsicht dramatischen Teil seines künstlerischen Erbes. Schon die “Sonne über dem Getto” stellt uns vor die Frage, in welcher Hinsicht stellt es denn ein abgeschlossenes Werk dar oder handelt es ich um einen Entwurf eines zukünftigen umfangreichen Denkmals. Diese Frage betrifft auch andere Arbeiten ähnlichen Tragödietyps (“Toter Weg Salehard – Igarka”, 1990; “Requiem. Den Opfern des Erdbebens gewidmet”, 1991; “Umkippen ins Grab”, “Den Opfern des Stalinismus gewidmet”, beide 1992; “Rebhühner”, “Kampfspuren”, beide 1993; „Im verhängnisvollen Kreis”, 1996.

Rafael Arutjunjan ist es gelungen, Autor des in Wirklichkeit auch realisierten und 1982 in der Stadt Kohtla-Järve errichteten Denkmals über die Freundschaft zwischen den Bürgern des estnischen Kohtla-Järve und des finnischen Outukumpu zu werden. Das Denkmal wurde aus lokalem Granit erarbeitet und als Kunstwerk steht es in endloser Entfernung von allen sowjetischen Stereotypen zu Ehren der „Verbrüderung“ der Partnerstädte. Auch die “Schatten der Gefallenen flehen an. Santiago” und “Es wiederholte sich in Chile” stellen allerwenigsten Werke für den Tisch oder Aufstellung auf dem Fußboden dar, die der Verzierung eines privaten oder öffentlichen Interieurs dienen sollen. Ihr vollwertiger Klang ist denkbar nur bei wesentlicher Vergrößerung, im ewigen Material, in einem speziell dafür bestimmten, sich außerhalb der Stadt befindenden und von allen Punkten gut überschaubaren Memorialmilieu.

Die andere, zahlenmäßig übertreffende Gruppe der Werke wird eingeführt von Arbeiten wie “Leben setzte sich durch” (1986) und „Folterkammer. Den Menschenrechtskämpfern gewidmet“ (1985). Ohne Zweifel handelt es sich um Denkmäler, beim ersten um ein allegorisches Werk und beim zweiten um ein Memorial. Genauso offensichtlich ist es, dass man mit selbstgenügsamen Werken von Tafelmalerei zu tun hat. Weil es eben kompliziert ist, ihr “hölzernes” Wesen in irgendein anderes monumentales Material umzusetzen, ist es auch schwer, die Anwesenheit im Memorialensemble des dornigen drahtähnlichen Spinnegewebes der „Folterkammer“ oder der kleinen, mit Blättern versehenen Ast, die ja  Unendlichkeit lebensspendender Kräfte symbolisiert, der Hauptheldin der Skulptur “Leben setzte sich durch” sich vorzustellen. Zu ähnlichen Werken, die keine Ansprüche auf eine monumentale Darstellung stellen, gehören auch “Eine kleine Seite aus der Geschichte meines Volkes” (1990), „Den Opfern des Stalinismus gewidmet“ (1992), “Im verhängnisvollen Kreis”, (1996) und viele andere.

Indem Rafael Arutjunjan auf die akademischen Kriterien des Schönen verzichtet und diametral in entgegengesetzter Richtung zu traditionellen Vorstellungen der Bildhauerkunst geht, erreicht er in genannten Arbeiten diese absolute Freiheit, von der er vor dem Studium am Institut träumte: „die Freiheit in Gedanken, in eigener Werkstatt, in der Skulptur“. Gerade die absolute Freiheit hat es ihm erlaubt, laut klassischen Maßstäben unvereinbare Komponenten in Rahmen einer Arbeit zu gebrauchen: natürliche und synthetische Stoffe, vom Autoren selbst gebaute, originelle und Haushaltsgegenstände (Kinderspielzeug in „Karussell“, 1992; Brille und Helm in „Osman – Pascha“, 1995; Tischuhr in der Arbeit „Zeit ist aller Sachen Recht“, 1995 usw.).

Im einsamen stürmischen Schwimmen und ohne den Willen, am stillen und mit verführerischen und für ihn fremden ästhetischen Leuchttürmen lockenden Ufer zu landen, verliert er nach dem Zerfall der Sowjetunion den einen nach dem anderen alle für sein Schaffen wichtigen sozialen Stimuli und sehnt sich nach „allem, das früher einheitlich war, und sich jetzt auseinanderfallen kann“. Sein Dialog mit der Zeit erinnert uns immer mehr an spontane Bewegung auf stürmischen Wellen des umgebenden Lebens. Nicht nur dem einfachen Zuschauer, sondern auch dem professionellen Kritiker fällt es ab und zu schwer, zu verstehen, wonach sich der Autor mit „Durch Chaos und Finsternis“ (1996) strebt, im Namen wessen zündet er die „Heilige Flamme“ (1995), wem droht der mit dem „Drachen. Ausgeburt des Systems“ (1990) oder dem „Idol“ (1996).

Die Schaffensarbeit des Meisters ähnelt sich in dieser Periode einer Selbstvernichtung, einem einsamen traurigen Spiel mit sich selbst, einer Zusammenstellung von Bedeutungsmerkmalen  nur für seine räumlichen Bilderrätsel, deren Enträtselung einem heilen ästhetischen Verstand, der in diesen Rätseln lediglich einen Abladeplatz zufälliger Gegenstände sieht, unzugänglich ist (“Schuttabladeplatz“, 1992), den für keinen anderen notwendigen und keinen anderen, außer ihn selbst, amüsierenden und sittenlehrende „Patiencen“ („Katze“, 1995; „Bruder oder kein Bruder?“, 1995; „Noch ein vergessenes kleines Ei“, 1995; „Waffen aller Epochen“, 1996).

In Wirklichkeit handelt es sich nicht um ein sorgloses Spiel mit sich selbst, sondern es geht um einen Kampf in einer von ihm selbst geschlossenen Zelle gegen Widersprüche, die ihn überwältigt haben, und dieser Kampf gelangt dann ab und zu bis zur höhnischen Selbstironie und bitteren Selbstpeitschung. Diese Sackgasse wird vom Meister in der Form einer, aus drei Teilen bestehenden, sich im Raum frei befindlichen Komposition aus Holz ausgedrückt, die den folgenden Text beinhaltet: “Mit jedem Jahr wird es schwerer, das Köpfchen anzustrengen, und das gilt auch für die Hände”. Diese, in gewissen Details Autoportrait-Komposition, kann als Abschiedsnehmen von den langen Jahren als Bildhauer, die ihm Glück und Unglück gebracht haben, betrachtet werden.

2. Graphik. Purgatorium

Nach Rafael Arutjunjans vierter Personalausstellung in 1997, die anlässlich seines 60. Jubiläums veranstaltetet wurde, verschwindet der Meister, völlig unerwartet für alle, von der Arena des hauptstädtischen Kunstlebens, um fünf Jahre später, Anfang des dritten Jahrtausends in seiner Personalexposition 2002 gleich zwei schöpferische Salven abzugeben: die graphische und die Malereisalve.

Eine enge Annäherung an Plastik weisen Portraits, Darstellungen der Tiere sowie Entwürfe der Skulpturdenkmäler auf, die an Kompositionen erinnern („Zum Gedenken der ewigen Flamme”, “Vom Inneren”, “Falle”, “Auf dem Friedhof”, “Metallhaufen und Spinnengewebe”, “Monument”). Solche Arbeiten wie “Männergesicht”, “Schwägerin”, “Diana”, “Enkelin”, “Nastjalein”, “Irina”, die nach wie vor keinesfalls unter dem Druck irgendeiner Sujet- oder auch ideologischen Last liegen, gehören nicht in die Zone formellen Experimentierens und sind je nach ihrer Stilistik zu den meist klassizistischen Arbeiten des Meisters einzuordnen.

Auch die animistische Graphik von Rafael Arutjunjan weist eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten mit Skulptur auf, einschließlich des “reinen Animismus” („Nashorn”, “Elefantenschildkröte”, „Kronentagender Kranich”, “Kamel”, “Trab” und viele andere) sowie des märchen-allegorischen Animismus. Vor uns erscheinen keine konkreten Vertreter der Erdfauna, sondern Personifikationen irgendwelcher sittenlehrenden Vögel, die Anspruch auf fremde und ihnen gar nicht eigene Rollen haben: der Löwe mit der Krone („Größenwahn“), sein regierender Doppelgänger (“Orang-Utan”, 1988), die “Denkende Gorilla” oder das mit schwarzem Humor gefärbtes “Monument der Schweinerei”. Einige Portraitgestalten und animistische Figuren sind mit der Plastik durch die fast skulpturartige Bearbeitung und die Gewichtigkeit der Körperform verwandt (“Maja”, “König der Tiere”).

Für Arutjunjan als Graphiker ist auch die Umdeutung von Genre-, Sujet- und thematischen Bedeutungen bekannt. Denn “Stille Verteidigung” und “Karate” sind genau so weit vom Sport entfernt als die Komposition “Sadist”, aber der Gesichtsausdruck in “Bildschöner Mann” mit übertriebenem “Gesicht kaukasischer Nationalität” assoziiert sich kaum mit unserer Vorstellung von männlicher Schönheit.

Er stellt sich immer wieder die verfluchten Fragen unserer Epoche (“Ob die Schönheit die Welt rettet?”), er wundert sich über die erstaunliche Fähigkeit des Menschen “auf die alte Harke zu treten”, seine Fehler zu wiederholen und die Lehren der Vergangenheit zu vergessen (“Von Zeit zu Zeit immer dasselbe”). Er ist verblüfft über die leichtsinnige Entthronung von ehemaligen Idolen (“Stürzung und Verteilung”), reagiert heftig auf die sinnlosen Feindschaften und  Blutbäder unserer Tage (“Sinnesverwirrung”, “Krieg”, “Enthauptete Köpfe”), befasst sich mit Normen des moralischen Benehmens (“Wenn alles versauft ist, was versauft werden kann”), erinnert sich an seine seelischen Lehrer (“Don Quiotte”, “Erinnerung an Komitas”, “Grigorij Narekazi”) …

“Hoffnung stirbt als letzte”, “Herumfingern an Saiten”, “Steine”, “Fliegende Projektile“ und viele andere sind Autoportraits aufgeregter, nicht eindeutiger und sich schnell verändernder Stimmungen von Rafael Arutjunjan, der sich keine Ruhepause im Zweikampf mit seinen Zweifel, düsteren Gedanken und gespannter Erwartung neuer Überfälle erlaubt. Davon zeugen auch die Titel der Arbeiten (“Meine Seele wie Raupe”, “Seelesentladungen”, “Seeleszustand des alten Armeniers”). Ihr tragischer Höhepunkt stellt das “Selbstbildnis” mit verzweifeltem durchdringendem Schrei wie letztes Wort auf öffentlichem Schafott dar: “Seht doch selbst zu, ich stehe vor euch in Flammen und mein Gesicht ist im Ruß”. Das Gesicht, entstellt mit dem Stempel vergangener schwerer Jahre, wird als eine weinende und mit blutigen Tränen entstellte Maske dargestellt. Es ist eine abschreckende und entblößte Maske, aber keine Totenmaske.

Es ist anzunehmen, dass die Darstellung des Lebens in den der Graphik eigenen weiß-schwarzen Tönen, die dem Künstler ja sowieso von Anfang an eigene Zuneigung zur Darstellung der Weide als traurig (“Weinende Weide”), der Wolken als drohend (“Gewitterwolken”), der Bäume als austrocknende Stümpfe (“Weinen der Erde”) und der Verlust unbedingt als endgültig (“Schwere Verlust”) darzustellen, noch mehr vertieft hat. Doch hat die Graphik ihm eine zweite Atmung und neue, nicht nur mit einem und unzuverlässigen Wachs gefestigte Flügel (“Ikaros”) verliehen.

Seine Graphik bringt einen lauten Ausruf aus in der Komposition “Hilfeschrei”, die gewisse Assoziationen mit dem bekannten Gemälde des norwegischen Malers E. Munch “Schrei” aufweist, und reproduziert genau die merkwürdigen Früchte seiner leidenden, zum Teil kranken Phantasie (“Verfall”, “Unbekannte Pflanzen”, Geheimnisse des Ozeans”, “Abstraktes Motiv”, “Poltergeist”, “Gespenst”). Für den Künstler widerspiegelt die Graphik den für Skulptur unbekannten Blick auf die Umgebung (“Ich gucke durch den Draht des Gerüstes”), sie lenkt seine Aufmerksamkeit auf unbedeutende, aber lebensbejahende Anzeichen (“Pilz auf Baum”, “Tropfen”, “Holzschnitte”) sowie auf leise Freuden des Alltags (“Fischer”, “Pilzsaison”), fügt einen Tropfen gesunder Selbstironie ins Verhältnis zu seinen altersmäßigen Launen und Eigenartigkeiten hinzu (“Erscheinung”, “Mirage des Alters”, worin auch die Ikonographie des “Gericht in Paris” und der “Drei Grazien” umgespielt wird).

Gerade in der Graphik verzichtet der Meister endgültig auf die Illusion der Erreichung vom allgemeinen pro-kommunistischen Paradies auf der Erde und wendet sich in seinen Gedanken an die höchsten himmlischen Kräfte.

3. Malerei. Himmelfahrt

Es scheint, als ob Malerei, die im Jahr 2000 an Stelle Rafael Arutjunjans Graphik trat, keine kardinalen Veränderungen in sein thematisches Repertoire mit sich brachte. Entscheidet man nach Gemäldetiteln und auch nach seinen eigenen Kommentaren, interessiert er sich nach wie vor praktisch für alles: antimenschliche Symbole “unserer unruhigen Zeit” (“Schuss”), “des Guten und Bösen” (“Altes Fresko”), des Lebens selbst mit seinen “weiß-schwarzen Färbungen des Zebras” (“Lebensrad”), des Zustandes einer “rebellischen Seele” (“Naturkraft”) sowie für die “Zeitverbringung der verlorenen Jugend” (“Ruhepause in der Natur”), für rein abstrakte und dekorative Kompositionen, die “unterschiedlich gedeutet werden können” (Phantasie zum Thema des Unterwasserlebens”, “Phantasmagorie” und andere), für estnische Volksfeste (“Festmaske”), das barbarische Verhalten des “menschlichen Wesens zur Tierwelt” (“Umgedrehtes Wesen”), das Einmischen der Sonderdienste ins Privatleben (“Teuflische Intrigen”), die “Freundschaft zwischen drei Rassen: gelb, weiß und schwarz” (“Drei Grazien”) und, wie seltsam das auch klingen mag, für Sujets, die “patriotische Gefühle hervorrufen sollen” (“Militärparade”). Kursgefasst, alles von biblischen Quellen („Adam und Eva”, “Opfern des Abraham”) bis zu neuesten aktuellen Ereignissen (“Katastrophe”).

Doch  gibt es auch Änderungen, und keine unwesentlichen. Zu den Symptomen dieser Änderungen gehören z. B. die Verminderung des satirischen, brandmarkenden Glühens in Werken zum Thema „Sünden der Gegenwart“, gleich dem „verkommenen Engel“ mit „Dollarklebern anstelle von Händen“. Leidenschaftliche, wütende Publizistik tritt zurück vor bitterem, sarkastischem Lächeln und der Enttäuschung in Ergebnissen persönlicher entlarvender selbstloser Kämpferei, die sich zum Teil in der Komposition „Abgewandte Gitarre“ ausdrückt, wo die Saiten der Gitarre wie Arme eines müden und verzweifelten Menschen „vor Sorge hängen geblieben sind“.

Indem der Künstler nach wie vor keine Autoritäten und künstlerischen Normen anerkennt, und die eigene Praxis innerhalb Kinder- und Laienschaffens positioniert, wo das Postulat “ich will es so” mehr gewichtig ist als alle höherstehenden Befehle, entdeckt er in der Kunst die Basisfunktion des freien und willkürlichen Spiels, dessen sozialer und materieller Wert äußerst relativ ist und die von der Masse, die sich der strengen und objektiven Rechnung der Umstände nicht unterwirft, bestimmt wird. Schon in „Karussell“, dem hölzernen „Mobil“ des Jahres 1992,  das ausschließlich für eigenes Vergnügen geschaffen wurde, erlaubt er sich, ernste und je nach ihrer materiellen Gründlichkeit und professioneller Ausführung, Werke mit Kinderspielzug zu beleben und zu verzieren, d. h. mit der am meisten adäquaten Verkörperung des Ursinnes der Spielkunst. Indem Rafael Arutjunjan in seine Collagebilder Worte, die aus Teilen des Kinderbaukastens  zusammengestellt werden, hinzufügt (“Widmung”), oder Handys und Rechner (“Portrait des Sohnes”), Handschuhe (“Unerreichbares”), Armbandfassungen (“Verlorene Werte”), Spielfiguren von Insekten und Schildkrötchen (“Kurzschluss”) und sonstige Haushaltsgegenstände mitspielen lässt, beschäftigt sich der Künstler nicht mit festlichem sinnlosen Totschlagen der Zeit, sondern mir freiem, ganz ernsthaftem und schöpferischem Komponieren, das dem Schaufeln der Kinder im Sandkasten oder uns allen aus früheren Jahren bekanntem Zusammenstellen von “Geheimnissen” kaum ähnlich ist.

Indem er sich mit seinem eigenartigen “Handwerk” beschäftigt, empfindet er ganz deutlich eine moralische Genugtuung, einen außergewöhnlichen Genuss und ein Gefühl seelischen Friedens, sogar bei Schaffung je nach ihrer Titeln trauriger Werke (“Hervorragender Beginn und traurige Ungewissheit”, “Hoffnungslosigkeit”, “Trauerpalette”). Der Meister erreicht hier eine solche Ebene befreiten schöpferischen Flammens, eine Zone unaufhaltsamen Phantasiefluges, wo die Zeit kraftlos ist und die räumlichen Koordinate nicht vorgegeben sind, wo überirdische Naturkräfte herrschen und kosmische Melodien klingen (“Parade der Sterne”), wo Genies vergangener Jahrhunderte wieder aufleben (“Paganini”, “Unter Begleitmusik von Beethoven”, “Wiederaufgelebte Maske”) und wo alles mit göttlichem Licht erhellt ist (“Göttliche Kerze”), das seinerseits die traurigen Leiden des Autors lindert.

Festmahlzeiten veranstaltet er nicht für festliche Passanten, sondern für ausgewählte eingeladene Gäste und die dem Künstler nahestehenden Menschen, die einfach in der Galerie der Familienportraits auszufinden sind. Diese Leute sind auf eine Art Postament erhoben worden, das den Kräften des Unheils unerreichbar ist und das sie vor allen denkbaren Gefahren schützt, und wo sie von aufgeklärter und fröhlichen bunten Aura umgeben sind, und wenn sie auch irgendwie mit der Erdoberfläche in Berührung kommen sollten, so wird sie in der Form des “friedlichen grünen Erdballs” dargestellt (“Diana Arutjunjan”).

Der Künstler entdeckt unwillkürlich ein neues Genre, das Genre eines festlichen Portraits und Geschenks und Talismans, das unveränderlich “bunte Steinchen wie Feuerwerk zu Ehren des Guten und Schönen” (“Enkelin Diana”) oder aus Muscheln zusammengestellte Wörter “an dich von mir” (“Widmung der Ehefrau”) oder “Bernsteinperlen und ein weißes Blümchen mit Perlenschmuck in der Mitte wie das Symbol der Sonne und der Gutmütigkeit als ewige Werte“  (“Wika”) oder Tierkreiszeichen und “Steinchen vor dem bösen Blick” (Tatjana Schteinle”, “Nastjalein”, “Mädchen und Hamster”, “Rimma Kazakowa”, “Lada”, “Portrait der Gurowa” enthalten.

Im Pantheon aller möglicher Götter und Göttlichkeiten gibt es nichts, was im Herzen des Künstlers einen höheren Platz hätte einnehmen können als seine Frau Irina. Der ausdruckvollste Beweis dafür ist das künstlerische Erbe des Meisters, beginnend mit der Skulptur “Irotschka” aus dem Jahr 1965. Das Zurückkehren zur Gestalt der Frau entwickelt sich weiter je nach Alter, von Episoden (in der Plastik) bis zu etappenbildenden Werken (in der Graphik und Malerei). Dabei nehmen die Portraitdarstellungen in dieser, sich immer ergänzenden Galerie, mit der Zeit der Ikonmalerei typische und symbolistische Formen an (“Portrait der Frau im Regenbogen”“, das noch mit Worten “Ich halte sie für heilig und deshalb habe ich sie unter strahlende Sterne gestellt” ergänzt wird. Dazu gehören auch die Skulpturen “Zwei”, “Familie”, “Nacht”, “Einigkeit”, graphische Blätter “Ohne Titel” (mit dem Text “Ob du meine schwarzen Blumen brauchst?”, “Ich komme zurück”, “Annäherung”, “Meine Prinzessin”, Gemälde “Der Frau gewidmet”, “Ästhetik der Familie” (der Familie als den höchsten Wert).

Aller Wahrscheinlichkeit nach und ohne jegliche Andeutung auf Irinas Erscheinung sind auch solche Gemäldekompositionen wie Liebenspalette”, “Adam und Eva”, “Gott ist die Liebe”, “Ich möchte dir das Universum schenken” der Frau und all den Jahren ihres glücklichen Zusammenlebens gewidmet worden, das, so schien es uns in der Jugend, von keinem alltäglichen Unglück betrübt werden konnte. Eigentlich haben diese Missgeschicke Rafael Arutjunjan nie aus dem Sessel herabwerfen können, bis zu dem schwarzen Tag in 2003, als ihm nichts mehr übrig blieb als sich an die Zeilen aus morgenländischen Poesie: “Als Krüppel sitze ich in meiner Wüste der Trauer nach dir, um mich herum ist nur der silberne Ozean meiner Tränen” zu erinnern.

In der von Rafael Arutjunjan und seinem Sohn Areg geplanten eigenen Kunstgalerie wird  ein Saal wahrscheinlich der Irina, seiner Hauptgöttin gewidmet. Dies würde die Vergütung der letzten von den privaten Schulden bedeuten, durch die der Meister wie durch abstrakte allgemeinmenschliche moralische Anker immer noch stark an das irdische Leben gebunden ist.

Alexandr Sidorov
Kunstwissenschaftler,
Hilfskraft des Präsidenten
Der Russischen Kunstakademie

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* Wird in Abkürzung gedruckt