Im Gespräch mit dem Gott

Von vielen anderen Malern
unterscheidet mich das,
dass ich in der Kunst beichte.
Rafael Arutjunjan 

Diese Äußerung von Rafael Arutjunjan ist dem Artikel als Epigraph durchaus nicht zufällig vorangesetzt. Es ist ein Schlüssel zum Verstehen seines Schaffens. Sein ganzes Leben lang führt der Maler einen inneren Dialog mit dem Gott und schüttet sein Herz den Menschen aus. Für die christliche Weltauffassung ist das Beichten das Grundprinzip des Dialogs zwischen einem Menschen und dem Gott, sowie auch die Idealform irdischer Kommunikation. Im Rahmen dieser Norm lebt, aber auch schafft der Maler.

In der Literatur existieren herrliche Vorbilder der Beichte – die Werke des Heiligen Augustinus, von Russo, von Tolstoi… . Literarische Größen benutzten dieses Genre als einen aufrichtigen Selbstbericht über ihr Leben, Nachdenken und ihre Seelebewegungen. Die Einzigartigkeit des Schaffens von Rafael Arutjunjan besteht darin, dass er die Gesetze des literarischen Genres sowie den Inhalt des philosophisch-theologischen Begriffes im Rahmen der Plastik, Graphik, Malerei, Poesie, aber auch in der Wirklichkeit seines ganzen Lebens umsetzen können hat. Der „Beichte-Charakter“ der Kunst des Malers zusammen mit den Besonderheiten seiner schöpferischen Methode reiht Arutjunjan, einerseits, unter die bedeutendsten Schöpfer der Gegenwart ein, andererseits lässt er ihn aus dieser Reihe auszeichnen und in genügendem Maße ausklammern.

Der bekannte Kunstwissenschaftler Boris Moisejewitsch Bernstein, der der Lehrer des Arutjunjan-Studenten war und mit dem, seinen eigenen Worten nach, „lange und warme Verhältnisse“ für das ganze Leben sich entwickelt haben, bestimmte die Ausklammerung des Malers so: „Ich würde es als einen Ausfall aus dem Kontext bezeichnen. So etwas kommt mit Propheten, rechtsschaffenden Menschen, „Don Quichotten“, Künstlern vor; die Dimensionen können beliebig sein, das Prinzip bleibt aber eins: ich polemisiere mit dem Zeitalter nicht, ich bemerke es einfach nicht“. Diese erstaunlich genaue Bestimmung des Schaffenswesens von Arutjunjan und seiner Stelle in der Reihe von anderen Meistern bedarf einiger Erläuterungen.

Die Beichte ist eine Selbstanalyse, ein Versuch, sich selbst unbeteiligt zu erblicken. Zu schaffen ist das aber nur in dem Fall, wenn das innere „Ich“ eines Menschen in das einer handelnden Person sowie in das einer beobachtenden Person geteilt werden kann. Mit anderen Worten gesagt: auf den inneren sowie auf den äußeren Menschen. Indem man aufhört, sich selbst mit dem Lebensstrom gleichzusetzen, wird der Mensch zu einem als ob außerzeitlichen Geschöpf und schließt sich den ewigen Wahrheiten an. Derjenige, der dies nicht begriffen hat, der über den tiefgreifenden Sinn des Wegs im Ernst nicht gedacht hat, befindet sich an der Oberfläche des Lebens und es fehlt ihm an Mut, in die Tiefe zu tauchen.

Das, was Bernstein als „Ausfall aus dem Kontext“ bezeichnet, ist nichts anders, als die wichtigste Seite der Beichtlichkeit der Kunst von Arutjunjan: seine Fähigkeit und Mut, aus dem Lebensstrom aufzutauchen und einen Blick auf ihn (auch auf sich selbst) unbeteiligt zu werfen. Später werden wir es erblicken können, wie dieser Blick in den Werken des Meisters zum Ausdruck kommen kann.

Nicht weniger berechtigt ist auch die andere Assoziationsreihe der angeführten Äußerung: Propheten, rechtsschaffende Menschen, „Don Quichotten“, Künstler. Uns, den Zeitgenossen von Arutjunjan, wird es nicht wissen lassen, inwiefern prophetisch sein Schaffen ist. Bestimmen kann das nur Ihre Majestät Zeit. Dem gegenüber können aber wir uns gut vorstellen, was für ein Leben rechtsschaffende Menschen führen, um welche Werte Don Quichotten kämpfen sowie welche Gefühle Künstler wecken. Dann lernen wir das Leben und Schaffen von Rafael Arutjunjan kennen, versuchen wir seine innere Welt zu verstehen und das zu hören, was seine Werke flüstern, zum Ausdruck bringen und schreien.

***

Rafael Arutjunjan wurde 1937 in Baku, in einer kleinen vermieteten Stube auf dem Dachboden des Hauses, bei Suren und Gohar Arutjunowy, geboren: in damaligen Jahren wurden armenische Familiennamen und sogar Vornamen oft auf russische Art und Weise umgeändert. In seiner Familie gab es überaus urwüchsige und markante Persönlichkeiten.

Rafaelʼs Urgroßvater mütterlicherseits Grigor Melik-Schachnasarjan tat so viel für sein Land, dass er in den Rang eines Adligen erhoben wurde und vom Zaren den Familiennamen-Präfix „Melik“ bekam, was „Fürst“ bedeuten sollte. Er lebte in Berg-Karabach, in seinem Dorf sowie in seiner Familie war er „der Zar“ und „der Gott“. Man liebte und respektierte ihn, weil er, erstens, zu seinem Vermögen auf dem rechtlichen Wege kam und, zweitens, weil er durch seine Gerechtigkeit, Freundlichkeit, Gastfreundschaft berühmt war und immer den Armen half. Grigor besaß ein wunderschönes Landgut: das Haus mit 15 Räumen, den großen Keller mit Gestellen der vieljährigen Weine, den riesigen Obstgarten…

Der Urgroßvater von Rafael nach dem Vater, Galust Arutjunjanz, war das genaue Gegenteil von Grigor. Er ist in Armenien in einer gewöhnlichen Bauernfamilie geboren worden und aufgewachsen und bekam den nach damaligen Zeiten angesehenen Beruf des kalten Schusters. Galust war aber nicht für ein gemessenes und eintöniges Leben geschaffen. Die Seele des Rebellen sowie die Abenteuerlust brachten ihn nach Baku. Hier aber machte er auch keine großen Fortschritte, da er faul war und schlafen mochte. Berühmt wurde er allerdings durch seine Tapferkeit und Furchtlosigkeit.

Der Großvater nach dem Vater, Kristofor Arutjunow, war ein reicher Kaufmann und besaß einen Laden, der mit Damenwäsche ausländischer Anfertigung handelte. Den Großvater nach der Mutter, Ovagim, hat Rafael niemals gesehen. Im Jahre, als er geboren wurde, verbannte man den sechzigjährigen Alten mit Abstempelung „Volksfeind“ nach Sibirien und zwang ihn zum Baumfällen auf dem Holzeinschlagort, wo er bald starb. Ovagim hatte natürlich keine Achtung vor Kommunisten und Stalin, er konnte die Zunge im Zaun nicht halten. Zum „Volksfeind“ wurde er, weil er einmal in der Gesellschaft seiner Kameraden, die auf der Terrasse saßen, erklärte, dass die Butter in Zarenzeiten billiger war.

Der Vater von Rafael war Militär, er diente in Mittelasien, war in der Gefangenschaft bei Basmatschen und sollte dem Tod ins Auge sehen.

In seinem Buch „Erinnerungen eines Menschen“, das 2003 die Welt erblickte, hat Rafael Arutjunjan so geschrieben: „In der Kindheit war ich, wie alle Bengel, furchtbar stolz auf meinen Vater, einen so starken und tapferen, vor dem die anderen Väter sich ein wenig fürchteten, älter aber geworden war ich unvergleichbar mehr auf meine MUTTER stolz und bleibe stolz auf sie bis heute, und ich will sehr, dass alle meinen Nachfahren auf sie auch stolz sein werden“.

Der Einfluss der Mutter auf Bildung der Persönlichkeit und der Innenwelt von Rafael war riesengroß. Gerade darin sind die Urquellen der ihm eigenen Donquichotterie, seiner dichterischen Kreativität sowie seines Humanismus zu suchen. Sie hat ihren Sohn gelehrt, die Messlatte hoch anzulegen und sie nie zu senken. Sie hat ihn auch gelehrt, die Frau zu schätzen und zu bewähren, seinen eigenen Weg im Leben zu gehen, ohne zurückzuschauen, hat gelehrt, unabhängig, gut- und großmütig zu sein.

Am feinsten über diese wunderbare Frau hat sich ihr dankbarer Sohn selbst geäußert: „Alle haben die Mutter geliebt: es war einfach unmöglich, diese ruhige, warmherzige und durchaus weibliche Galotschka nicht zu lieben. Das Streben nach dem Schönen, nach dem Erhabenen wurde in ihr von Geburt an gelegt, sie besaß ein unerschöpfliches Bedürfnis nach der geistlichen Bereicherung. Sie hat Allen und Alles verziehen, sie war immer bereit zur Hilfe auf den ersten Ruf zu kommen, sie hat dabei niemals unter ihrer Würde gehandelt, wenn sie sogar beleidigt worden war, in meinem Gedächtnis blieb sie als das hellste Wesen, das ich in meinem Leben je gekannt habe“.

Klar, dass der von solcher Mutter geborene und erzogene Sohn der lange dauernden, häufig erfolglosen Suche nach der Einzige geweiht ist, die ihn an seine Mutter mindestens entfernt erinnert. Voreilig gesagt ist es zu vermerken, dass Rafael hier das in seinem Leben zweite Glücksticket herausgezogen hat. Er begegnete seine Dulcinea, die sein Leben mit Sinn, Licht und Macht erfüllt hat, und die er über viele glücklichste Ehejahre nicht ermattete, in seinen Werken darzustellen und als die Heilige zu nennen.

Kehren wir aber nach Baku zurück, in die sowjetischen Vorkriegs- und Kriegszeiten, und versuchen wir, in einem barfüßigen Straßenjungen die Züge des reifen Künstlers Arutjunjan zu bemerken. Man behauptet doch nicht umsonst, dass alles, was mit uns im erwachsenen Leben passiert, seine Wurzeln doch in der Kindheit hat. Rafael wuchs als Raufbold und Streithahn, Tage lang spielte er auf der Straße sowie in den Nachbarhöfen, manchmal mit minderjährigen Straftätern, manchmal mit fleißigen jüdischen Knaben. Er hat praktisch nie entweder ein Nachschlagebuch, oder ein Wörterbuch aufgemacht, und das war im Unterschied zu seiner älteren Schwester Emma, die ein Buch aus den Händen überhaupt nie gelassen hat. Es wäre leichter, die Schnee- und Eiskappe vom Berg Ararat hinunterzuwerfen, als ihn ans Buch zu setzen.

„Der Herr Gott hat Emma mit einer wissbegierigen und analytischen Mentalität versehen, ihm reichte es, nur einen Blick auf mich zu werfen, um kapieren zu können, dass es nicht lohnt, so einen wertvollen Stoff umsonst zu verbrauchen, und er hat in meinen Kopf das hineingesteckt, was bei der Hand vorhanden war: die Reste einer sinnlich-beschaulichen Mischung nicht der besten Qualität“, so hat Rafael den Unterschied im Charakter sowie in der Lebensweise seiner Schwester und sich selbst mit der ihm eigenen Selbstironie gekennzeichnet. Er hat aber dabei vergessen, daran zu erinnern, dass diese „sinnlich-beschauliche Mischung“ sich in Wirklichkeit überhaupt nicht schlimmer als die fundamentale Gelehrsamkeit seiner Schwester entpuppte.

Am wahrscheinlichsten hat gerade diese „Mischung“ den 15-jährigen Rafael zum Zentralen Pionierpalast von Baku in den Bildhauerzirkel von Anna Iwanowna Kasartzewa hingebracht und dazu gezwungen, sein Leben, seine Umgebung, seine Gewohnheiten zu ändern. Ab jetzt trieb er sich jeden Tag nach der Schule durch die Straßen nicht herum, sonder ging in den Pionierpalast und lernte es, den Widerstand des festen Bildhauerstoffes zu überwinden.

Einen Widerstand leistete auch das Leben selbst, den hat Rafael auch überwunden. Zum Schulabschluss bestärkte er sich in der Meinung, er werde Bildhauer. Es stellte sich aber heraus, dass es nicht so leicht ist, in die Kunsthochschule einzutreten: es gab zu wenig Stellen, und viele Eintrittswilligen. Wie viele anderen in ihre Sache verliebten Jungs hat er den Eintrittsantrag dreimal gestellt und dreimal die Ausschreibung verfehlt. Jemand wurde zum Trinker, jemand resignierte, jemand streckte die Waffen. Arutjunjan aber wurde mit jedem Misserfolg nur stärker: „Mir hat damals die Sonne der Hoffnung geschienen: irgendwann wird sich alles geben, die Hoffnungen werden zur Wirklichkeit und ich werde unbedingt Bildhauer. Ich werde eine Lebensfreundin haben, die in der ganzen Welt ergebenste sowie liebendste Ehegattin. Man muss nur standhalten!“ Ist das keine Prophezeiung? 1958 leitete Rafael das Studium an der Bildhauerfakultät der Staatlichen Kunsthochschule der Estnischen SSR ein, 1964 traf er die einzige Liebe seines Lebens – Irina, am dritten Tag machte er ihr den Heiratsantrag und heiratete sie nach zwei Monaten.

„Die Jahre des Studiums an der Kunsthochschule waren sehr erfolgreich, – erinnerte Arutjunjan. – Wir haben die Zeit umsonst nicht verloren. Bis spät haben wir in Ateliers gearbeitet. Von den anderen Studenten in der Gruppe habe ich mich nicht besonders abgehoben, nur, vielleicht, bezogen auf die Komposition. Die Atmosphäre war warm, freundschaftlich, der Wettbewerbsgeist war zweifellos auch vorhanden, er konnte einfach nicht vorhanden sein“. Das Lehrpersonal des Institutes war sehr stark, dort waren Jaan Vares, Olav Mjanni, Martin Saks, Enn Roos, Boris Bernstein. Sechs Jahre des Studiums haben die Studenten an die Grenze gebracht, wo die erworbenen Kenntnisse vorzuzeigen waren – an die Diplomarbeit.

Da Arutjunjan der erste armenische Student in der Geschichte der Kunsthochschule war, hat man irgendwie gewartet und von sich selbst verstanden, dass er für seine Diplomarbeit das ihm der Nationalität nach nahe Thema wählen wird, die Tragödie des armenischen Volkes während des türkischen Genozides. Er aber kam in die Kunst auf eigene Art und Weise: eindrucksvoll, laut und durch den Haupteingang. Seine 2,20-Meter-grosse Vier-Körper-Komposition zum Thema „Juden des Odessa-Ghettos“ hieß „Die Verlorenen“ und rief in der Prüfungskommission eine echte Panik hervor, weil es damals nicht ungefährlich war, sogar nur das Wort „Jude“ zum Ausdruck zu bringen.

Arutjunjan selbst hat die Themenwahl so erklärt: „Der Holocaust war und bleibt bis heute eine unverheilte Wunde, damals haben die Nazis mehr als sechs Millionen Menschen durch Erschießungen und in Gaskammern vernichtet. Das passt bis jetzt in meinen Kopf nicht hinein. Dazu noch war dieses Thema aber nicht abgenutzt, nur wenige Künstler, in jedem Fall bei uns im Lande, wagten sich dazu. Und das ist doch ein nicht unbedeutender Faktor für Schaffensinspiration“.

Boris Moisejewitsch Bernstein, mit dem Arutjunjan sich beraten hat, wenn die Idee eine greifbare Gestalt nur anzunehmen begann, hat in der Einleitung zur Monographie „Rafael Arutjunjan“ die Bedeutung der Diplomarbeit für das ganze Schaffen des Künstlers so eingeschätzt: „In dieser frühen Wahl sind für mich solche Charakterzüge zu sehen, die vieles in der Zukunft in Ihrem Lebens- und Schaffensverhalten bestimmt haben. Ist es nötig daran zu erinnern, dass es um die Zeiten geht, wann nur die Erwähnungen von einer systematischen Judenvernichtung eine Partei- bzw. Regierungsgereiztheit verursacht haben. Ob Ihr Projekt ein Empörungsakt war, der später die Bezeichnung „Dissidenttum“ erhielt, weiß ich nicht. Ich glaube, das war etwas anderes und, möglicherweise, etwas Größeres: die Demonstration der inneren Freiheit“.

Es bleibt unbekannt, womit die Sitzung der Prüfungskommission zu Ende gehen können hätte, hätte Arutjunjan in Petersburg oder in Moskau studiert. Estland war damals aber wohl die liberalste und die am meisten freidenkerische Unionsrepublik, wo der Einfluss der westlichen Kunst stärker als irgendwo noch zu empfinden war, und die Diplomarbeit von Arutjunjan wurde mit der höchsten Note bewertet. So hat die Donquichotterie des Künstlers angefangen – der Weg des Kampfes gegen alle Arten des Bösen.

Den damals geltenden Regeln nach hatte jeder Absolvent der Kunsthochschule nach der Ablegung des Diploms ein, zwei oder drei Jahre lang in irgendwelcher kulturellen Einrichtung zu arbeiten, und danach am angegebenen Tag nach Institut zu kommen und das Zeugnis über Absolvierung der Kunsthochschule festlich zu erhalten. Sein Jahr hat Arutjunjan in Baku als Leiter des Bildhauerzirkels in demselben Zentralen Pionierpalast abgearbeitet, in seiner Freizeit, zweimal pro Woche hat er das Zeichnen in einer der Schulen von Baku gelehrt. Im Laufe jenes Jahres ist er dazu gekommen, zu heiraten, das Diplom zu erwerben und sich von den Kunstschaffenden in Baku enttäuscht zu fühlen: „Ich habe eine mir gegenüber wohlwollende zivilisierte Umgebung verlassen und bin in eine komplizierte Atmosphäre zurückgekehrt, wo schöpferische und unschöpferische Streitigkeiten in vollem Gange waren, die manchmal das Niveau von gangsterhaften Auseinandersetzungen unter Einsatz der blanken und Schusswaffe erreichten, wo jeder dritte Bildhauer einen Staatsauftrag für Lenin-Skulptur, am häufigsten mit der nach vorne gestreckten Hand, hatte und wo die „Auftragsbildhauer“ von den „Schöpfungsbidhauer“ sich sehr wenig untereinander unterschieden“.

Mit dem erwünschten Diplom in der Tasche, an der Schwelle der schöpferischen Laufbahn, voll von Ideen und Absichten ist Rafael plötzlich vor ein Dilemma geraten: seines unter fremdgleichen oder fremd unter seinesgleichen zu sein. Dem Ruf des Herzens zu folgen und nach Tallinn zurückzukehren oder den Traditionen nachzugeben und in Baku zu bleiben? Nach einigen Bedenken hat er das Erste gewählt und … war erschrocken: ob die ihm nahesten Menschen – die Mutter und die Ehefrau – diese seine Entscheidung verstehen werden?

Das von der Mutter Gesagte war eine Erschütterung für ihn: „Es tut mir leid, dass ich dich zurück nach Baku mitgebracht habe (die Mutter war zu mir zum Diplomablegen gekommen). Du solltest dort, in Tallinn bleiben, wo du eine Zukunft haben könntest. Hier hast und hättest du die kaum jemals. Ich habe mein Leben lang gelebt und ich weiß, was ich sage. Dort hast du Freunde, Gesinnungsgenossen gewonnen, die Luft in Tallinn hat aber auch eine günstige Wirkung auf deine Schaffensarbeit. Und ich weiß, dass genau darin, in der Schaffensarbeit, dein Leben besteht“.

Es wurden langdauernde und ermüdende, den Rafaels Worten nach, bis zu Streitigkeiten, Gespräche mit der Ehegattin eingeleitet. Erzogen in einer Familie, die sehr weit von der Kunst war, konnte sie nicht kapieren, was ihn dazu zwingt, alles, was teuer und lieb ist – Freunde, Verwandte, die Heimatstadt, zu verlassen, und nach jenem kalten Land bewegt, in dem die Menschen in eigenen Emotionen so zurückhaltend sind, dass sie selbst eher als Statuen aussehen. Noch mehr als die Ehegattin widersetzten sich ihre Eltern seiner Entscheidung wegzufahren. Rafael fühlte sich äußerst unglücklich und suchte hektisch und hilflos nach einer Lösung, ohne zu wissen, was unberücksichtigt zu lassen.

Und hier kam seine Mutter ihm wieder zu Hilfe. Diesmal aber durch ihren plötzlichen und unerwarteten Tod. Als ob sie mit ihrem Fortgehen aus dem Leben ihm den letzten immer noch fehlenden Antrieb dazu gab, dass er sein eigenes Leben nicht kaputtmachen wird. „Für mich war das der Schlag, nach dem ich lange Jahre zu sich kommen nicht konnte. Das Gefühl einer tiefen Einsamkeit hat sich auf mich geworfen. Niemand hat mich so verstanden, wie sie, und niemand, wie es mir damals schien, hat mich so geliebt. <…> In meinen Gedanken habe ich mich mit ihr noch einmal verabschiedet, die Arbeit dringlich aufgegeben und bin, nach Reisevorbereitungen, die den ganzen Tag dauerten, nach Tallinn weggeflogen“, – erinnerte Rafael.

Was die junge Ehefrau Irina anbetrifft, so stellte es sich heraus, dass sie nicht nur ihr Haus, ihre Freunde und ihre Heimatstadt, sondern auch ihren Ehemann, wirklich liebte. Gleich nach Absolvierung der Universität zog sie nach Tallinn um, um ein langes und glückliches Familienleben einzuleiten.

Zu jener Zeit konnte sich der junge Bildhauer an der neuen Stelle einrichten. Alle Lebensfragen konnten ziemlich schnell gelöst werden: Olav Mjanni hat mit Anmeldung in Tallinn geholfen, um die Werkstatt hat sich Boris Moisejewitsch Bernstein bemüht, die Arbeit hat Matti Varik gefunden. Damals war es praktisch unmöglich, eine gute Stelle im Fach „Bildhauer“ zu bekommen, und Arutjunjan ging in die Halle der Steinkunstbearbeitung arbeiten, er wurde einfacher gesagt zum Grabsteingravierer. Am Anfang schien es, dass diese schwere und traurige Arbeit, deren einzige Bestimmung in der Familienernäherung besteht, einen provisorischen Charakter haben wird, sie hat aber dem Künstler 17 Jahre seines Lebens gekostet und seine Gesundheit ruiniert. Ernährt hat sie auch nicht besonders gut, denn bezahlt wurde sie im Stücklohn und spärlich. Die Familie musste von der Hand in den Mund leben. Diese Arbeit gab aber dem Arutjunjan das Wichtigste – die Möglichkeit so zu schaffen, wie er will, d. h. die Freiheit. Für das eigentliche Schaffen blieben die Abende, das Wochenende und die Urlaube. Es blieb praktisch nichts für Erholung.

1968 wurde beim Ehepaar Arutjunjan, das immer noch in einer 9-m2-großen Stube bei der Werkstatt wohnte, der Sohn geboren. Der Vater hat einen ungewöhnlichen und mutigen Vornamen „Areg“ für ihn gewählt. Diesen alten armenischen Vornamen entlehnte er aus einem Märchen über Aregnasan und Nunufar. Dort wurde es berichtet, dass wenn der Junge namens „Aregnasan“ seine Braut namens „Nunufar“ findet, so fällt die Endung „nasan“ von seinem Namen ab, es wird nur der Anfang „Areg“ bleiben. Das eigentliche Wort „Areg“ bedeutet „Sonne“, seine indirekte Bedeutung heißt „Leben“. Nach einem halben Jahr war Arutjunjan schon an der Reihe, eine kooperative 2-Zimmer-Wohnung zu bekommen. Nicht ohne Hilfe des Hochschulkameraden, des Graphikers Endel Palmiste, konnte er sie bekommen. Jetzt wurde alles im Rafaels Leben mehr oder weniger OK, man konnte sich an die Verwirklichung eigener schöpferischen Absichten richtig machen.

In den ersten Jahren nahm plastisches Bildnis eine besondere Stelle in seiner Schaffensarbeit. Es sieht so aus, dass er seinen beliebigen Gedanken im festen Stoff zum Ausdruck bringen kann. „Irotschka“, „Tanja“, „Kopf einer jungen Frau“, die späteren „Maske“, „Weiblicher Kopf“, „Träume“, „Dekorativer Kopf“, „Kopf des Sohnes“, „Wiola“, „Minas Avetissjan“, „Allotschka“ … Dem Künstler gelingt es ohne besondere Anstrengungen den Rhythmus in den unbeweglichen Gestalten – den inneren Rhythmus der Statik – wiederzugeben. Mit der ihm eigenen Bescheidenheit sagt er so: „Ich wage es selten meine Arbeit als Bildnis zu bezeichnen. Gewöhnlich schreibe ich „Männlicher Kopf“, „Weiblicher Kopf“. Weil ein Bildnis das Komplizierteste ist, was in der Kunst sein könnte. Die innere Welt des Gesprächspartners, seine Natur, sind wiederzugeben, gleichzeitig ist aber sich selbst Ausdruck zu geben“.

Der große Bewunderer des Schaffens von Arutjunjan, Kunstwissenschaftler, Assistent des Präsidenten der Russischen Akademie der Künste, Aleksander Sidorow, hat die Bildniskunst des Meisters in seinem Artikel „Dornen und Sterne von Rafael Arutjunjan“ so gekennzeichnet: „Wir sind davon sicher, dass Rafael Arutjunjan ein erfolgreicher, weit abgerufener und in allen Hinsichten gediehener Bildhauer gewesen wäre, hätte er sich dazu verleiten lassen, sich auf dem Schaffen der plastischen Bildnisse von berühmten und für seine Laufbahn „nützlichen“ Personen, sowie Mitglieder ihrer Familien – besonders Kinder und Vertreterinnen des schönen Geschlechts – zu spezialisieren. Denn gerade das hat einen noch nicht gesehenen Aufschwung und ein beneidenswertes Aufblühen solchen derzeit aber schon Malern, wie Ilija Glasunow, Aleksander Schylow und Nikas Safronow, gesichert. Indem er aber auf Ergänzung der offiziellen Galerie aus ruhmreichen Arbeitern und Bauern, Staatsmännern und Kulturschaffenden, Militärs und Sportlern, Kosmonauten, Polarforschern und sonstigen „Tageshelden“, die nach der vom Zentrum gebilligten Schablone modelliert und für die gleichnamigen Ausstellungen und Präsentationen „Unser Zeitgenosse“ bestimmt wurden, verzichtet hat, war Arutjunjan den Weg von Pionieren der Gesellschaftskunst nicht gegangen, die noch vor Perestroika entstanden ist, jetzt aber sowohl von den „Macht gehaltenen“, als auch von den postsowjetischen „neuen Reichen“ aller Schattierungen bevormundet werden“.

Die Verführung, von der Sidorow spricht, war in der Tat eine ernsthafte Probe für alle Künstler damaliger Zeit. Sie sollten am häufigsten zwischen dem Erfolg, dem Ruhm und den Auszeichnungen, einerseits, und der Treue sich selbst, der Offenherzigkeit und der Wahrheit, andererseits, wählen. Und die Großplastik wurde mehr als jede andere Kunstart von offiziösen Organen bestimmt. Die überwiegende Mehrheit von Großplastikarbeiten hatte einen ideologischen, d. h. unaufrichtigen Charakter. Der junge, schöpferisch aber schon reife Arutjunjan hat seine Wahl noch damals getroffen, als er gegangen war die Aufschriften an den Grabsteinen zu machen. Nachfolgend hat er das so formuliert: „Indem ich von Anfang an die ganze Demütigung des Kampfes für Erhalten der Staatsaufträge und deren Verwirklichung kapiert habe, als der Künstlerrat über dich herrscht, als man dich dazu zwingt, sich selbst nicht zu sein, die Ideen bzw. irgendwelche bestimmten von der Staatsmacht angegebenen Personen zu bedienen, habe ich einen festen Beschluss gefasst, keine Aufträge zu suchen und zu erzwingen, sondern auf Kosten eines anderen Gewerbes zu leben, d. h. sich selbst und der eigenen Familie das tägliche Brot zu verdienen“.

Trotzdem hat Arutjunjan einen Versuch Unvereinbares zu vereinigen doch gemacht. 1970 bereitete sich das Land vor, den 100. Geburtstag von W.I.Lenin festlich und feierlich zu begehen. Die Behörden haben beschlossen, das vor dem Gebäude des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Estlands stehende Denkmal dem Führer des Weltproletariats zu renovieren, und eine entsprechende Ausschreibung angekündigt. Rafael Arutjunjan hat sich ab sofort sowie hingebungsvoll der Arbeit angeschlossen. Weil es, erstens, unnötig gewesen wäre, sich zu erniedrigen, um diesen Staatsauftrag erhalten zu können, man hätte nur in einer ehrlichen Ausschreibung gewinnen sollen, und es ist, zweitens, durchaus möglich, ein vollkommen neues Bild von Lenin zu schaffen – entweder als eines müde gewordenen Menschen, oder als einer zweifelnden, oder als einer triumphierenden Person, ohne aber letzten Endes die nach vorne gestreckten Hand.

Einem Jury-Mitglied nach „war das Denkmal beim keinem der Preisausschreiber dem Bildnis des Führers so nah, wie bei Arutjunjan“. Nach der Auswertung der Ausschreibungsergebnisse sollte er sich nur an einer Anreizprämie genügen lassen, ihm blieb aber auch ein schweres Nachgefühl von dem, was er während seiner Beteiligung an der Ausschreibung erlebte und erblickte. Gerade damals gab er sich sein Wort darauf, niemals mehr unter keinem Vorwand an den Auftragsbildnissen zu arbeiten. Er hat sein Wort gehalten, indem er seine Entscheidung so begründet hat: „Ständige Konkurrenz, Neidgefühle und Rücksichten darauf, wer mehr verdient hat, schaden der wahren Kunst. Wenn der Künstler damit beginnt, die Berufstkollegen aufmerksam zu betrachten sowie zu schnüffeln im Versuch zu bestimmen, wer begabter und erfolgreicher ist, mir erinnert das an eine intelligente Version der Affenzuchtfarm. Jemand hat einen Auftrag erhalten, über jemanden hat man geschrieben, über ihn selbst aber nicht. Und nur sehr wenige Künstler schenken den materiellen und sozialen Gütern keine Aufmerksamkeit, sie schauen nur in die Tiefe von sich selbst. Und nur sehr wenige Künstler können bis dahin erleben, aufwachsen, heranreifen und, es könnte so sein, sogar altern, bevor das Gespräch mit dem Herrn Gott eingeleitet sein wird. Und nur dann wird sich der Künstler von all dem lossagen, was kleinig ist, und wird seine Suchen in der Kunst anfangen.

Das nächste Jahrzehnt war gespannt und fruchtbar. In den 1970er hat Arutjunjan viel gearbeitet, an allen städtischen und republikanischen, manchmal auch an Allunionsausstellungen teilgenommen. Zu den lyrisch-philosophischen plastischen Bildnissen kamen die Arbeiten für sozialwesentlichen und deshalb Arutjunjan aufregenden Themen hinzu. Am schärfsten reagierte er auf den Schmerz, die Ungerechtigkeit sowie auf die Unterdrückungen und versuchte es sie mit schöpferischen Mitteln zu stoppen. 1973 verbreitete sich schnell die Nachricht über brutale Ermordung des Sängers und Komponisten Victor Jara im Fußballstadion von Santiago. 1975 brachte der Bildhauer seine Trauer durch die Komposition „Trauerbaum. Zum Andenken an Victor Jara“ zum Ausdruck. Die Ereignisse in Santiago haben Rafael Arutjunjan überhaupt so erschüttert, dass das chilenische Thema eine Fortsetzung in seinen anderen Werken gefunden hat: „Geister von Gefallenen rufen an. Santiago“, „Das wiederholte sich in Chile“. Zu dieser Reihe gehören auch solche Arbeiten wie „Folterkammer. Den Kämpfern für Menschenrechte“, „Die schweren Zeiten. 1937“, „Eine Seite aus der Geschichte meines Volkes. Karabach“, „Die Vorwarnung“ über die Tschornobyl-Katastrophe, „Die verrückte, verrückte Welt“ über das afghanische Drama und viele andere.

Die Fähigkeit des Bildhauers die tragischen Ereignisse seines Zeitalters fein zu erfassen und dazu Stellung zu nehmen hat Aleksander Sidorow so gekennzeichnet: „Rafael Arutjunjan, der die fremden Leiden äußerst verständnisvoll behandeln konnte, sollte zugeben, dass die Menschheit die Lehren aus der Vergangenheit schlecht gezogen hat und der Triumph der Gebote christlicher Tugend nicht in der nächsten Zukunft zur Wirklichkeit wird. Mit den Jahren wurde für den Meister die Gerechtigkeit des Gedankens darüber immer offensichtlicher, dass das Widerstehen den Nöten und den Mängeln der Zeit das Geschick nicht nur von literarischen Personen („Danko“) und realen heldenhaften Persönlichkeiten („Gestalt im Raum. Zum Andenken an umgekommenen Kosmonauten“), aber auch von jedem Menschen des guten Willens, Adepten der Gerechtigkeit, das heißt – von ihm selbst ist“.

Der Erweiterung von Arbeitsthemen gleichlaufend wurden auch die schöpferischen Mittel des Bildhauers schnell reicher. Er versuchte sich in verschiedenen Stoffen, in verschiedenen Genres, suchte und fand die neuen ausdrucksvollen Mittel. Aluminium, Kupfer, Bronze, Gips, Holz, Granit haben ihn durch ihre unerforschten Möglichkeiten herangezogen und seine Gedanken und Gefühle gehorsam zum Ausdruck gebracht. „Die Geheimnisse des Stoffbegreifens werden sehr lange aufgedeckt, wenn du mit verschiedenen Stoffen arbeitest, dann noch länger. Einige Bildhauer widmen sich nur einem Stoff, ich aber hatte Interesse sowie Neugier auf alle. Es könnte so sein, dass ich damit die Meisterschaftebene nicht erreichte, die ich erreichen können hätte, hätte ich mit einem einzigen Stoff gearbeitet, doch das Streben danach, deren Geheimnisse aufzudecken, waren mir immer eigen“, – gab der Künstler später zu. Die schöpferische Sprache wurde immer mehr lakonisch und präzis, und die Werke immer expressiver und ausdrucksvoller.

Alle diese Erfolge haben Arutjunjan davon überzeugt, dass er als Künstler zustande gekommen ist, und 1971 hat er entschieden, seine erste personelle Ausstellung zu veranstalten. Eine ihrer Aufgaben bestand darin, dem Malerverband beizutreten, so war damals das allgemeine Regel für alle. Die Ausstellung hatte unter Kollegen und Kunstkenner Erfolg. Wie hoch war doch das Arutjunjans Erstaunen, als er an seinem Beitrittsantrag in den Malerverband den folgenden Entscheid gelesen hat: abzulehnen im Zusammenhang mit ungenügendem Professionalismus der vorgelegten Arbeiten. Eine sinnvolle Frage darüber, warum denn sie seine Arbeiten beschaffen und zu den Allunionsausstellungen geschickt haben, hat Arutjunjan nicht gestellt. Nach sechs Jahren hat er eine neue eindrucksvolle personelle Ausstellung veranstaltet und wurde ohne Verzögerungen in den Malerverband aufgenommen.

1977 ist Arutjunjan, für viele unerwartet, der Partei beigetreten. Wovon konnte sich der 40-jährige, in seinen Urteilen völlig unabhängige, unpolitische Mensch, ein Steinmetz mit einer 10-jährigen Berufserfahrung, der im Lande berühmte Bildhauer und Mitglied des Malerverbandes beim Treffen einer solchen Entscheidung leiten lassen? Dieses Rätzel zu lösen könnten uns vielleicht die Worte von Rafael Arutjunjan selbst helfen: „Mir scheint es, dass zum Hauptunterschied unserer Generation der Glaube gehörte <…> Wir haben geglaubt, nicht weil wir blinde Dummköpfe waren, sondern weil wir Fleisch vom Fleische Kinder unserer Zeit waren. Dieser Glaube war nicht nur der Glaube an eine historische Vorbestimmung der großen Mission unseres Staates als des Staates mit der weltfortschrittlichsten Gesellschaftsordnung – dem Sozialismus, sondern auch der Glaube an den Menschen, der diese Ordnung geschaffen hat“.

Die mit Arbeit, Schaffen und Familiensorgen gefüllten Tage reihten sich in Wochen, Monate und Jahre. Tags war eine schwere Arbeit in der Steinmetzwerkstatt der Fall, abends sowie am Wochenende folgte die Arbeit für die Seele in eigener Werkstatt. Das Leben eines Rechtschaffenen: „Wie ich lebe, so arbeite ich auch. Meiner inneren Struktur nach schätze ich und werde immer die Rechtschaffenden schätzen, und ich bemühe mich auch so zu sein. Inwieweit gelingt es mir, weiß ich nicht, mein ganzes Leben lang aber habe ich mich bemüht nicht zu sündigen“.

Nach der 17-Jahre-langen Arbeit als Steinmetz hat sich Arutjunjan gefühlt, dass er müde ist. Die Gesundheit, an die er früher nicht erinnert hatte, forderte jetzt immer mehr Aufmerksamkeit. Sein Herz tat weh. 1983 entschloss sich der Bildhauer die Arbeit zu wechseln: er kündigte in der Steinmetzwerkstatt und ging in das Werk „Punane RET“ als Anwärmer arbeiten: jeden dritten Tag sollte er von 16:00 bis 7:00 Uhr Spannungsmeßgeräte anwärmen. Für das Schaffen und die Familie blieben mehr Zeit und Kräfte. So sind noch sieben Jahre verlaufen. 1990 erreichte seine Beschäftigungsdauer das Niveau von 25 Jahren, und Arutjunjan hat gekündigt, keine Minute zu zögern. Ihn hat auch der Umstand nicht zurückgehalten, dass es ihm dem Alter nach noch zwei Jahre für Eintritt in den Ruhestand fehlte. Er entschied sich, dass er diese Zeit dem widmen wird, was er mag: dem Schaffen sowie der Familie.

Damals ist das Riesenland ins Schwanken gekommen und begann zu zerfallen. Nach Breschnews Tod, der das Ende eines farblosen und einförmigen Lebens kennzeichnete, haben sich die politischen Ereignisse so schnell verändert, dass es keine Zeit geblieben war, sie zu begreifen. In Gedanken und Herzen siedelten sich Verwirrung, Bestürzung und Angst an… . Arutjunjan, der zu damaliger Zeit die schöpferischen Mittel für Ausdruck der Wirklichkeit bereits meisterhaft beherrschte, hat über Mittel ihrer gedanklichen Verarbeitung nachgedacht. In der Suche nach dem Sinn von dem, was passiert, bewegte sich der Künstler vom Konkreten zum Abstrakten, vom Bild zum Symbol. Solche Arbeiten damaliger Zeit, wie „Eine Seite aus der Geschichte meines Volkes. Karabach“, „Requiem. An Erdbebenopfer“, „Den Opfern des Stalinismus gewidmet“, „Drache. Ausgeburt des Systems“, „Müllhaufen“, „Fernsehbrücke“, „Sturz in den Grab“, stellen nicht so klassische Skulpturen, wie mehrteilige Konstruktionen bzw. Installationen dar, die den anderen gegenüber genauer die Verwirrung der menschlichen Seele vermitteln. Den Sidorows Worten nach grenzt die Schaffenstätigkeit des Meisters in jener Zeit an eine geistige Selbsterfressung, an ein einsames trauriges Spiel mit sich selbst, ans Bilden von nur für ihn wesentlichen räumlichen Bilderrätseln, deren Lösen dem gesunden ästhetischen Sinn unzugänglich ist, der darin nur einen „Haufen“ von zufälligen Gegenständen erblickt („Müllhaufen“).

1997 fand im Kulturzentrum in Sakala-Straße die vierte personelle Ausstellung von Arutjunjan statt. Die war dem 60. Jahrestag des Meisters gewidmet und demonstrierte mehr als 100 Werke. Sowohl die Kritiker, als auch die Kollegen und Verehrer der Schaffenstätigkeit des Meisters sahen in diesen Arbeiten ein eindeutiges Zeugnis von wichtigen Änderungen in der schöpferischen Art und Weise des Bildhauers an. Es war offensichtlich, dass er sich von den ihm eigenen Kanons entfernt sowie das Interesse an natürlichen Stoffen verloren hat. Die Experten haben das als Fortgehen in den Konzeptualismus bezeichnet, wenn materielle konkrete Bilder durch Symbole und Symbolhaftigkeit ersetzt werden, und die Suche nach der Wahrheit bereits nicht im Stoff selbst erfolgt, sondern in seiner Kombinatorik sowie in der Umgebung. Arutjunjan selbst sprach über diesen Zeitraum so: „Ich glaube, in der Bildhauerkunst habe ich von mir alles ausgepresst, was ich konnte“. Fast denselben Gedanken hat zu diesem Anlass auch Aleksander Sidorow zum Ausdruck gebracht: „Er hat den letzten ausdrucksvollen fetten Punkt in seiner Laufbahn des Bildhauer-Künstlers gesetzt. Nicht die kranke Hand – die Erklärung sieht zu alltäglich und nicht grundlegend aus, sondern die gelittene, müde gewordene und gequälte durch erlebte Tragödien des 20. Jahrhunderts Seele des Meisters hat den gesetzt“.

Nach der vierten personellen Ausstellung ist Arutjunjan von der Bühne des hauptstädtischen künstlerischen Lebens für alle unerwartet verschwunden, um nach fünf Jahren bei der personellen Exposition 2002 sich selbst gleich in zwei neuen Gestalten – als Graphiker sowie als Maler – vorstellen zu können. Die aus 230 Arbeiten bestehende Ausstellung fand im August 2002 in derselben Halle statt. So hat Rafael Arutjunjan an diesen Zeitraum erinnert: „Mein Name als des Bildhauers war schon ziemlich bekannt nicht nur unter den Fachexperten, sondern auch in der estnischen Öffentlichkeit, als einen Graphiker und Maler hat mich niemand gekannt. Daraus resultiert ein erhöhtes Interesse mit einem Verlegenheitstönchen: Welcher Arutjunjan? Rafael? Er ist doch Bildhauer! Und 230 Arbeiten?! Man muss gehen und sehen…“.

Und man ist gekommen, hat angesehen, bewundert und begeistert. Und es hat sich gelohnt. Ein ausgezeichneter Zeichner, er hat mit einer verwunderlichen Genauichkeit und Tiefe, durch Strich und Linie, nicht nur Einzelheiten des Dargestellten, sondern auch Gedanken, Gefühle und Zweifel wiedergegeben. In den Porträts – Familien- und Gruppenporträts, in der animalistischen Reihe und in den vielseitigen Allegorien hat er, wie in der Bildhauerkunst früher nach den Antworten auf die ihn erregenden Fragen gesucht und gefunden.

Was die ausgestellten Gemälde anbetrifft, so haben sie Effekt einer Bombenexplosion gemacht. Mit nichts vergleichbar bzw. unerhört und gleichzeitig sehr erkennbar, paradoxal der Form nach und harmonisch der Absicht nach, überraschend, leuchtend und kontrastreich haben die Gemälde die Besucher für lange aufgehalten, sie zum Nachdenken, Erinnern, Analysieren, Vergleichen angestoßen und gezwungen. Sie haben die Phantasie geweckt, die Erinnerungen belebt, die Analogien zum Leben gebracht, die Fragen gestellt… Die von Arutjunjan gefundene Form kann bedingt als eine „umgedachte Gegenständlichkeit“, in Analogie zur „neuen Gegenständlichkeit“, die Anfang des 20. Jahrhunderts vom Kubismus gefestigt worden ist, genannt werden. Ihr Wesen ist darauf zurückzuführen, dass die gewohnheitsmäßigen Gegenstände, aus den gewohnten Verhältnissen mit gewohnten Umgebungsobjekten ausgerissen, in zufälligen paradoxalen Kombinationen erscheinen. Den Worten von Aleksander Sidorow nach hat der Künstler ein neues Genre entdeckt, das Genre des feierlichen Porträt-Geschenks und des Amuletts, das unbedingt entweder „bunte Steinchen als Salut zu Ehren des Guten und der Schönheit“ („Enkelin Diana“), oder die aus Muscheln ausgelegten Worte „Für dich von mir“ („Schenkungsurkunde der Ehefrau“), oder „Bernsteinhalskette und Weißblume mit Perlen in der Mitte – Symbol für die Sonne und Herzensgüte als eines ewigen Wertes“ („Vika“), oder die Tierkreiszeichen und „Steinchen gegen den bösen Blick“ („Tatjana Steinle“, „Nastenka“, „Mädchen und Hamster“, „Rimma Kazakova“, „Lada“, „Porträt von Gurova“) einschließt.

In seinen Gemälden setzt der Maler das vor vielen Jahren eingeleitete Gespräch mit dem Gott fort. Jetzt aber klang es lauter, als früher. In den Titeln der Gemälde sah es so aus: „Gott ist die Liebe“, „Ökumenischer Tischler“, „Wege Gottes sind unbekannt“, „Kerze Gottes“, „Ikonen im Raum“, „Hineinfliegen ins Paradies“, „Hineinfliegen in die Hölle“, „Offenbarung“, „Gebt keine Heiligtümer den Hunden und Perlen euren Schweinen…“. Das Wesen der theologischen Vorstellungen von Rafael Aratjunjan zeigt das Gemälde „Kreuz“ am besten vor: Einheit, Gleichheit und Erhebenheit aller größten Religionen der Welt. „Die Biblischen Wahrheiten scheinen mir unbestritten zu sein. Geprüft und getestet wurden sie Jahrhunderte lang. Sich nur auf die zu stützen ist doch unmöglich, denn das Leben ist sehr vielfältig. Es stellt immer wieder die neuen Fragen und bringt den Menschen häufig in Verlegenheit. Es ist von den Biblischen Wahrheiten auszugehen, weiter muss man aber selbständig gehen – zu eigener Wahrheit, zu eigenem Gipfel“.

Es schien, dass das Leben in Ordnung gekommen und gelungen ist. Der Sohn Areg wuchs auf, absolvierte die Schule, leistete Militärdienst, beendete das Institut, heiratete seine große Liebe Swetlana und brachte die Tochter Diana und dann den Sohn Gabriell zur Welt. Vom Ururgroßvater Grigor Melik-Schachnasarjan die kaufmännischen Fähigkeiten übernommen hat er seinem Vorfahren ähnlich das Geschäft von Anfang an in Gang gebracht. Die Ehefrau Irina, die viele Jahre im Kalinin-Werk als Meisterin des Produktionsabschnittes für Vergoldung und Silber gearbeitet hatte, trat endlich in den Ruhestand. Sie hat die Rafaels Begeisterung über Malerei unterstützt, sie war damit zufrieden, dass er jetzt Tage lang vor ihren Augen ist, und sie hat damit geholfen, womit sie nur konnte – sie hat sogar die Geschäfte zusammen mit ihm bei der Suche nach „Steinchen-Muscheln“ für seine Gemälde besucht. Gekommen waren die Bekannten, Rafael hat sie gezeichnet und gemalt, im Gange waren interessante Gespräche, zwischen Modellstehen gab es traditionelles Teetrinken. Rafael und Irina fanden endlich alles, wovon sie in ihrer Jugend geträumt hatten: Berühmtheit, Anerkennung, einen erfolgreichen Sohn, Enkelkinder… . Auf dem Gipfel ihres Lebens und Traums konnten sie Hand in Hand leider nicht lange stehen. Am 26. Januar 2003 ist Irina gestorben.

In einen bodenlosen Abgrund der Einsamkeit, Trauer und des Kummers gestürzt ist Rafael verstummt. Alle Kräfte wurden dafür verbraucht, um den Verlust begreifen zu können. Alles Übrige hat seinen Sinn verloren. Langsam, mit vorsichtiger Hilfe von nahen Angehörigen startete Rafael den Weg zur Krisenbewältigung. An die Stelle des Schocks ist die Wut gekommen, die mit Schwierigkeiten die Etappe der Ausgleichung-Ablehnung erreichen konnte. An ihre Stelle kam eine echte Traurigkeit, das heißt die Zeit, wann der Seelenschmerz maximal wurde und der Mensch die echten Qualen ertragen soll. Eine nicht durchlebte Trauer bedeutet eine Bremse im Leben, denn genau der Trauer leistet der Mensch einen größten Widerstand. Der Rafaels Widerstand dehnte sich für zwei Jahre aus. Er hätte bis heute dauern können, wären Areg und seine Familie mit ihrer Sorge, Geduld und Liebe nicht dabei gewesen. Diese beiden Jahre fassten alles um: von Entwicklung der Internet-Seite des Künstlers und seiner Reise nach Mekka der Künste – Italien bis Veröffentlichung der farbenreichen 600-Seitigen Monographie des Künstlers, in der wunderschöne Dias aller seiner Arbeiten dargestellt wurden.

2005 konnte Rafael endlich die letzte Etappe bei der Krisenbewältigung – Aussöhnung mit der Situation – erreichen und hat gelernt mehr oder weniger gut mit seiner Trauer zu leben: „Das bedrückendste besteht in dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, mit dem ich derzeit leben soll. Ob ich überhaupt lebe? Gerade das will ich derzeit am wenigsten. Sogar der Sohn, Enkelkinder und die zärtliche und liebevolle Schwiegertochter sind nicht im Stande, die grenzlose Leere in meiner Seele einzufüllen, die nach dem Tod meiner teuren Lebensgefährtin, mit der ich fast 40 Jahre lang zusammengelebt habe, entstanden ist“.

Er hat die vergessenen Pinsel wieder zur Hand genommen und begann zu malen. Die Ausstellung 2007, die dem 70. Geburtstag des Künstlers gewidmet war, sammelte 50 in diesem Zeitraum gezeichneten und gemalten Arbeiten. Würde es zur Gewohnheit den personellen Ausstellungen den Titel zu geben, hätte diese den Namen „Leiden“ getragen. In diesem Sinne ist das Gemälde „Passant“ die zentrale Arbeit – die erfrorene bedrückte Gestalt eines Alten an Rande eines Lichtflecks umgeben von Blindwänden. Die Farbenskala versenkt den Zuschauer in den Zustand der Trauer, die bescheidenen bildenden Mittel wecken das Mitempfinden, die kompositionelle Genauigkeit zwingt die Augen dazu in den senkrechten Flächen nach irgendeinem Lichtblick zu suchen. Es gibt aber keinen. Unter Begreifen der Hoffnungslosigkeit geht der Blick zurück zur einsamen erfrorenen Gestalt und steigt fast unwillkürlich nach oben. Zum Ausgang. Zum Himmel. Zum Gott.

Die Anhänger und Kenner des Schaffens von Arutjunjan lenken die Aufmerksamkeit auf seine Treue den eigenen Idealen, dem Themenkreis, dem Humanismus. Wie früher spricht er mit dem Gott: „Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“, „Wandelt auf dem Meer“, „…Und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren“, „ Der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von obenan bis untenaus“, „ Beim Grab Gottes“, „Auferstehung des Lazarus“, Triptychon „Auf Golgota: Jesus“, „Hör uns, Gott!“… . Eine wichtige Stelle nehmen in seiner Schaffensarbeit wie früher seine Ehefrau („Die Welt über dich ist wunderschön, es mangelt an dich in ihr“, „Geheiligt werde dein Name“, „Das Lebensmärchen ist ab“, „Mein Engel flog ab“, „Hoch schwebt mein Engel, nicht zu erreichen und nicht zu umarmen“) und Familienmitglieder („Enkelchen Gabriell“, „Meine Dianotschka“). Der Künstler such wie früher nach seiner Wahrheit: „Ewigkeit“, „Botschaft Nr.1“, „Botschaft Nr. 2“ …

Die Beichtlichkeit, mit der wir diese Erzählung über das Leben und die Schaffensarbeit „des estonischen Malers mit armenischen Wurzeln“ Rafael Arutjunjan eingeleitet haben, ist in diesem oder jenem Maß allen Arten seines Schaffens eigen – sowohl der Bildhauerkunst, als auch der Graphik und der Malerei. Aber am lautesten und am durchdringendsten klingt sie in seiner Dichtung. Im Buch „100 Gedichte“, das 2004 die Welt erblickt hat, sind die Gedichte gesammelt, die vom Künstler während seines ganzen Leben geschrieben worden waren. „Die Gedichte sind das, was ich in der Bildhauerkunst bis zum Ende sagen nicht konnte. Oder das, was in der Skulptur nicht zum Ausdruck zu bringen ist. Es reicht in den Gedichten zu sagen, es soll doch so aufrichtig sein, wie in der Skulptur. In der Skulptur soll es die Beichte sein. Deswegen… deswegen schäme ich mich ein bisschen“, – kündigte der Autor an.

Diese Gedichte sind manchmal naiv und einfältig, manchmal erhaben und feierlich, sie berichten über das Leben der Seele, die verwirrt, widerspruchsvoll und unerforscht ist.

Möge eines dieser wunderschönen Gedichte unsere Erzählung abschließen.

 

Ich blättere die vergangenen Jahre

Und lese über mein Leben,

Und der hemmungslosen Seele Flüge

Gebe ich Ihnen vor Gericht.

 

Schauen Sie diese Kleinigkeit,

Lesen Sie über das Leben in der Hölle,

Dort sind meine Tapferkeit und Schwäche,

Alles ist ehrlich, ich lüge nicht.

 

Beurteilen Sie gleich nicht streng,

Ich eröffnete Ihnen die Tiefe.

Die passt weder in die Redewendung,

noch in die auserlesene Strophe.

 

Über Augenblicke und Ewigkeit,

Über vermachtete Liebe,

Über meine und Ihre Sündigkeit

Hab ich ein Werk aus Worten geschrieben.

 

Lieben Sie mich für meine Schwäche,

nicht dafür, dass ich bald sterbe,

dafür aber, dass ich Tapferkeit besitze,

sich vor Ihnen herauszustellen, wie vor dem Geist.

 

Emma Darvis